Krise und Kritik. Ein Seminar zum Schreiben über Architektur.

Seminar Architektur und Stadt I (056-0001-01)
Veranstalter: MAS
Dozierende: Dr. Anne Kockelkorn, Dr. Susanne Schindler, Marie-Anne Lerjen
Zeit: Freitags, 13.00–16.30 Uhr
 

Wie wollen wir morgen leben? Und wie leben wir heute? Architekturkritik sorgt dafür, dass über die Produktion der gebauten Umwelt diskutiert und gestritten werden kann. Dies gilt vor allem in Zeiten des Umbruchs, sei dieser gesellschaftlich, wirtschaftlich, oder ökologischer Art. Kritik und Krise sind nicht nur etymologisch miteinander verwandt in Bezug auf die Frage, wie richtig zu unterscheiden sei. Sie verbinden auch die Architektur mit den öffentlichen Debatten über die wesentlichen Entwicklungen einer Gesellschaft.

Als literarische Gattung und Format des politischen Diskurses des liberalen Bürgertums formierte sich Architekturkritik im ausgehenden 18. Jahrhundert: zu einem Zeitpunkt, als genügend gebildetes Publikum und damit genügende Leserschaft vorhanden war, um über die Relevanz, Form und Ausdruck von Bauwerken zu reflektieren. Zwei Jahrhunderte später erfuhren die wesentlichen Voraussetzungen der Architekturkritik eine fundamentale Erschütterung. Zunächst bereiteten die ökonomischen, ökologischen und politischen Krisen der 1970er Jahre der ungebrochenen Fortschrittserzählung der Moderne ein jähes Ende, womit auch ihre entsprechenden architektonischen und städteplanerischen Modelle unhaltbar wurden. Auf technischer Ebene sorgte das Internet ab Mitte der 1990er Jahre für eine zuvor nie gekannte Verfügbarkeit von Bildern; in diesem Moment übernahmen Webseiten und Blogs die Funktion der Berichterstattung über Architektur, was konventionelle Druckformate obsolet werden ließ. Seitdem ringt Architekturkritik einerseits um ihre Sichtbarkeit und ist gleichzeitig als Forum, um über das Politikum gebaute Umwelt zu diskutieren, relevanter als je zuvor.

Für unser Seminar nehmen wir drei gegenwärtige Krisen als Ausgangspunkt um zu fragen, welchen Beitrag Architekturkritik heute zum Verständnis der gebauten Umwelt und der Gesellschaft, die sie produziert, leisten kann. An erster Stelle steht die Frage nach dem Überleben, das heißt, wie Architektur, Stadtentwicklung und Bauindustrietechnik durch Energieverbrauch und Flächenversiegelung zur Erderwärmung beitragen. Wie blicken Architekturkritikerinnen im Hinblick auf den Klimawandel auf die Produktionsbedingungen des Bauens – und wagen sie es, „Architektur“ anders als Materialisierung von Fortschrittsdenken und dem Ideal ewigen Wachstums zu definieren? An zweiter Stelle steht die Finanzialisierung der Stadtentwicklung, die, angetrieben durch jahrelangen Null- und Negativleitzins, derzeit nicht nur die Städte der westlichen Industrienationen erfasst und ihre sozialen Netze mit einem Keil auseinandertreibt. Wie beantwortet der Architekturdiskurs die Wohnungsfrage angesichts dieser gegenwärtigen Herausforderungen, welche Alternativen bietet er an? Und schliesslich die Frage nach der zunehmenden politischen Polarisierung und der Frage, wie und ob Architektur zur Schaffung gemeinschaftlicher Räume und Leitbilder beitragen kann. Wie situiert Architekturkritik die Frage nach den angemessenen Bauaufgaben einer Zeit – und ihrer ästhetischen Ausformulierung?

In diesem Seminar zu „Krise und Kritik“ setzen wir dabei voraus, dass sich „Architekturkritik“ nicht nur mit gerade fertiggestellten Gebäuden befasst, sondern ebenso gesellschaftliche Zusammenhänge in den Blick nimmt, die Schichtungen von Orten untersucht oder Produktionsbedingungen nachspürt. Kritik stützt sich auf eine Vielfalt an Quellen, die über die Perspektive und die Dokumente der Architekten (ihre Zeichnungen, ihre Aussagen) hinausgehen; sie kann auch eine Kritik an den Konventionen des öffentlichen Diskurses und seiner Ausschlusskriterien sein oder alternative Modelle des Architekturdenkens und -diskurses sowie Formate und Medien ihrer Kritik vorschlagen.
Um diese Ziele zu erreichen, ist das Seminar zu gleichen Teilen in zwei Lehrformate eingeteilt: einerseits Textanalyse und -diskussion (5 Sitzungen); andererseits Vor-Ort-Besuche als Gegenstand zum Schreiben von Kritik in Kurz-, Mittel- und Langform sowie Feedback- und Diskussionsveranstaltungen zur Arbeit der Studierenden mit geladenen Gästen (5 Sitzungen). Das Seminar gibt den Studierenden ausgiebig Gelegenheit, ihre eigenen Antworten auf die eingangs gestellten Fragen zu finden: Wie wollen wir morgen leben? Und wie leben wir heute?

Lernziele
• Überblick über unterschiedlichen Medien, Formate und Debatten der gegenwärtigen deutsch- und englischsprachigen Architekturkritik
• Verständnis für die historische Entwicklung der deutsch- und englischsprachigen Architekturkritik
• Argumente, Methoden und Recherchepisten für eine historische und politische Kontextualisierung architektonischer Artefakte.

Vermittelte Fähigkeiten
• Kurze, prägnante Texte verfassen lernen.
• Gebäude bzw. räumliche Situationen für unterschiedliche Lesergruppen und in unterschiedliche Medien verständlich zu beschreiben lernen und dabei gleichzeitig zu interpretieren.
• Textanalyse: die Grundannahmen, den Argumentationsaufbau und das sprachliche—und anderweitig ästhetische—Vorgehen eines Autors/einer Autorin zu verstehen.
• Interpretationssicherheit: einen eigenen sprachlichen und intellektuellen Zugang zur Architekturproduktion der Gegenwart zu entwickeln


Syllabus Architekturkritik - gta MAS, HS 2019

Bibliographie Architekturkritik - gta MAS, HS 2019 


Textkritik mit Dr. Gabrielle Schaad und Kaye Geipel (Chefredaktion Bauwelt), Foto: Marie-Anne Lerjen